Die 200jährige Blütezeit des Vogelmannkults auf der Osterinsel Rapa Nui soll im 15. und 16 Jahrhundert gewesen sein, manche Angaben reichen aber auch bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die Zeit der königlichen Regierungen, vertreten durch die Nachfolger Hotu Matuas, der um 400 nach Christi das erste Königreich auf der Osterinsel gründete, ging zu Ende. Es war die Zeit der leidvollen Auseinandersetzungen zwischen den Tribus und der Hoffnung der Menschen, dass Tangata Manu, der Vogelmann, dem Kriegstreiben ein Ende setzen würde.
Der Vogelmann, der nicht nur ein exzellenter Krieger des jeweiligen Tribus war, sondern auch Eigenschaften besaß, die wir heute mit hoher sozialer Kompetenz beschreiben würden, übernahm für jeweils ein Jahr die Macht. Im Zeremonialdorf Orongo, an der Südwestspitze der Insel gelegen, fand jährlich im Juli oder August (die Angaben schwanken etwas) ein Fest zur Ehrung des neuen Gottes Make Make, dem Erschaffer der Welt, statt. Der König besaß keine Macht mehr, aber eröffnete das Fest und nahm repräsentative Aufgaben wahr. Höhepunkt dieses Festes war die Krönung des neuen Vogelmanns. Dazu wurde ein Wettbewerb zwischen den jeweiligen Kandidaten der einzelnen Tribus ausgetragen. Jeder Kandidat wurde dabei durch seinen Hopu, einem Untergebenen mit hohen sportlichen Fähigkeiten, vertreten.
Zum Zeitpunkt des Festes brüteten die Rußseeschwalben auf dem Motu Nui, einer kleinen vorgelagerten Insel von Rapa Nui. Die Aufgabe der Hopus bestand darin, das erste Ei, dass die Schwalben legen, vom Motu Nui zur Osterinsel zu bringen. Dazu kletterten die Hopus die Steilküste hinab zum Meer, schwammen zu den Motus und warteten eine ungewisse Zeit auf das erste Ei - das Wahrzeichen des Gottes Make Make. Dieses Ritual hat sicher einigen Hopus das Leben gekostet. Das Herabklettern an der Steilküste ist extrem gefährlich, auch die starke Strömung im Meer und die Haie waren sicher eine echte Herausforderung. Der Kandidat, dessen Hopu das erste Ei heil zur Osterinsel brachte, war der Sieger und wurde für ein Jahr zum Vogelmann gekürt.
Im Rahmen des Festes wurden weitere rituelle Handlungen vollzogen. So wurden zum Beispiel dem neuen Vogelmann alle Körperhaare abrasiert. Anschließend wurde er entsprechend der Tradition bemalt. Im weiteren Verlauf wurde die Uka, eine Prinzessin, auserwählt. Dazu erzählt Stephanie Pauly (1) in ihrem Buch folgende Geschichte: "Die kandidierenden Jungfrauen stellten sich mit gespreizten Beinen auf eine bestimmte Stelle zwischen den Felsen. Die Stelle ist heute noch bekannt und ist heute noch zu sehen. Der begutachtende Mann konnte sie nun von unten ansehen, konnte ihre Jungfräulichkeit feststellen und gleichzeitig ein Urteil abgeben über die Schönheit ihrer Schamlippen." Nach diesem Ritual begaben sich die Prinzessin sowie die mit ihr ausgewählten Jungfrauen zur Höhle Ana o Keke, wo sie in völliger Abgeschiedenheit und Dunkelheit ein Jahr lang verbrachten.
Einige Petroglyphen aus dieser Zeit haben wir bei dem Besuch der Höhle im Jahr 2008 noch sehen können. Allerdings sind wir nicht so tief in die Höhle vorgedrungen, um den Aufenthaltsraum der Frauen zu sehen. Der Zugang ist extrem eng und damit nicht ganz ungefährlich. Nach einem Jahr zog die Prinzessin mit den Jungfrauen für ein weiteres Jahr in eine tiefer liegende Höhle, in die Ana Hue Neru, um die Ana o Keke für die "Nachfolgerinnen" frei zu machen. Ob die Ana Hue Nero heute noch zugänglich ist, weiß ich leider nicht, da ich von deren Existenz erst später erfahren habe. Was in dieser Zeit mit der Prinzessin und den Jungfrauen geschah, ist bis heute unbekannt. Es war absolut Tapu darüber zu sprechen. Der Verstoß gegen ein Tapu wurde von den Ureinwohnern früher mit dem Tode bestraft. Sicher gibt es Annahmen, wie zum Beispiel, dass die Frauen dem Tangata Manu oder anderen höhergestellten Persönlichkeiten zu Diensten waren. Aber das sind Spekulationen, kein Mensch weiß heute wirklich was Genaueres darüber.
Der Vogelmann selbst lebte nach der Zeremonie in Abgeschiedenheit. Zum genauen Aufenthaltsort gibt es allerdings auch nur Vermutungen. Viele Petroglyphen aus der damaligen Zeit kann man noch heute in Orongo bewundern. Leider steht der Moai mit dem Namen Hoa haka Nana ia, einer der wenigen aus Basalt gefertigten, heute nicht mehr in Orongo, sondern im Britischen Museum in London.
(1) Quellenverzeichnis:
Stephanie Pauly lebt seit einigen Jahren mit Karlo Huke Atán zusammen, der sich selbst als Maori bezeichnet, auf der Osterinsel. Beide arbeiten u.a. als Schriftsteller an der Buchreihe "Eine Botschaft der Maoris von Rapa Nui". Stephanie beschreibt in ihren Büchern sehr eindrucksvoll die Geschichte(n) der Rapa Nui von der Geburt der Insel bis in die Gegenwart.
Autoren: Karlo Huke Atán und Stephanie Pauli
Titel: Kultur Philosophie Geschichte der Osterinsel
ISBN:3-932248-07-4
Titel: Mündliche Überlieferungen der Osterinsel
ISBN:3-932248-08-2